Hören und Lesen lernen

Gastartikel von Claudia Krüger

Was hat Hören mit Lesen zu tun?

Prof. Tomatis hat diese Frage mal beantwortet mit: Wir lesen mit dem Ohr. Das klingt zunächst verwirrend. Was hat er damit gemeint?

Nun, Kinder lernen ihre Muttersprache zunächst über das Hören. Sie schauen vielleicht ihre Hand an, bewegen sie, betasten sie, nehmen sie sogar in den Mund und riechen daran. Doch erst wenn jemand dieses Etwas mit „Hand“ benennt, entsteht ein Wort, das dann – nach häufiger Wiederholung – zur Muttersprache gehört.

Bis zum Beginn des Lesens hat sich dieser Vorgang in dieser oder ähnlicher Weise viele Male wiederholt und das Kind hat einen passiven und aktiven Wortschatz aufgebaut. Nun jedoch soll es lesen lernen – also dem bis dato nur Gehörten, Buchstaben zuordnen.

Was aber, wenn das Kind bis dahin keinen Unterschied zwischen „Hand“, „Sand“, „Band“ und „Pfand“ gehört hat – das ist vielleicht gar nicht aufgefallen, denn durch den Kontext, in dem das Wort jeweils verwendet wurde, war für das Kind klar, was gemeint war und die Kommunikation kaum gestört.

Welcher Buchstabe passt jetzt zu „*and“? Das Kind wird nach dem Kontext suchen, der aber beim Lesen lernen oft nicht da ist. Vielleicht kommt die Aufforderung „Hör mal genau hin!“ – das tut es, aber es kann nicht unterscheiden und gibt sich die Schuld für seinen Fehler. Und das Selbstvertrauen begibt sich auf den Abwärtskurs…

Warum ist das Gehör von derart zentraler Bedeutung?

Das Ohr ist das erste Sinnesorgan, das vollständig ausgebildet ist – bereits im 5. Schwangerschaftsmonat! Das ganze Leben lang sorgt es dafür, dass der Mensch in sämtliche Lebensprozesse eingebunden ist. Es erschließt uns die Welt. Es ist unser wichtigstes Wahrnehmungsorgan.

Das Ohr hat drei grundlegende Funktionen zu erfüllen:

1. Es stellt das Gleichgewicht her.
Der Gleichgewichtssinn sorgt z. B. dafür, dass wir uns „gegen“ die Schwerkraft aufrecht halten können. Er ist unabdingbar für die räumliche Wahrnehmung und sorgt für die sichere Bewegung des Körpers.

Auch die sechs Augenmuskeln, die den Augapfel halten und führen, „hängen“ an diesem Gleichgewichtssinn – das ermöglicht das Lesen von Zeilen und auch den Übergang von einer Zeile zur nächsten. Kinder mit einer Gleichgewichtsproblematik haben bei dieser Aufgabe häufig Schwierigkeiten.

2. Es dient als Kommunikationsorgan.
Gelungene Kommunikation beginnt mit dem richtigen Zuhören. Dazu müssen alle Frequenzen optimal wahrgenommen und verarbeitet werden. Will man antworten, bedient man sich seiner Stimme – wussten Sie, dass der Klang der Stimme nur die Variabilität an Klangfarben, Höhen und Tiefen enthält, die das Ohr auch erfassen kann?

Wie oben bereits beschrieben – vor dem Lesen kommt das Hören. Die präzise Unterscheidung von Frequenzen ermöglicht die Unterscheidung von e-i, d-b, b-p, s-f etc.

3. Es energetisiert das Gehirn.
Über das Ohr aufgenommene Reize sind der Treibstoff fürs Gehirn. Besonders die hohen Frequenzen sorgen für Wachheit und Leistungsfähigkeit des Cortex, dem Teil des Gehirns, der u.a. für das Entziffern und Verstehen von Texten, für Informationsspeicherung, Sprechen und Schreiben, für Nachdenken und planvolles Handeln zuständig ist.

Was ist, wenn die Funktionen nicht gut erfüllt werden?

1. Wenn das Gleichgewicht schwankt, fällt es möglicherweise schwer, recht von links und ebenso wichtig oben von unten zu unterscheiden oder Fahrrad zu fahren, vielleicht stößt man ständig irgendwo an oder es stimmt im übertragenen Sinne nicht so richtig mit der
„Work (Schule) – Life (Spielen) – Balance“, vielleicht ist so jemand träge oder unsportlich oder auch hyperaktiv – eben nicht ausgeglichen…

2. Wer nicht richtig (zu)hört, versteht nicht, was man von ihm will, er hat „zugemacht“ oder reagiert möglicherweise „ungehörig“, er muss oft nachfragen oder kann eben möglicherweise nicht so gut lesen… – die Kommunikation ist erschwert.

Vielleicht ist so jemand auch ein „Einser – Kandidat“ – aber alles ist sooo anstrengend. Man muss eventuell alles fünfmal sagen, bis es ankommt, vielleicht sind auch die Diktate nicht gut oder es hapert mit Französisch oder Englisch…
vielleicht spricht die Person auch mit „langweiliger“ Stimme oder viel zu schrill…

3. Wenn das Gehirn nicht energetisiert ist, wird man langsamer, vergisst häufiger, zieht sich zurück, das Interesse an der Außenwelt geht zurück… und so weiter…

Das Ohr ist an so vielen Prozessen beteiligt und doch wurde und wird diesem Sinnesorgan bis heute oft nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet. Wie kann man nun feststellen, ob eine Hörschwierigkeit (auditive Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung) besteht?

Ganz wichtig: Ein normaler Hörschwellentest beim HNO-Arzt oder beim Hörgeräteakustiker reicht dafür nicht aus. Dieser Test erfasst nur die Lautstärke (Quantität), die jemand braucht, bis eine bestimmt Frequenz wahrgenommen wird – glaubwürdig ist das Testergebnis übrigens erst ab einem Alter von ca. 6 Jahren!

Die Unterscheidung der Frequenzen (Qualität) wird nicht untersucht. Ein Test in der Pädaudiologie ist da schon aufschlussreicher, bei kleinen Kindern unter 6 Jahren unumgänglich. Oder man lässt einen TOMATIS®-Hörtest anfertigen.

Wer oder was ist TOMATIS?

Prof. Dr. med. Alfred Tomatis war ein französischer HNO-Arzt. Er promovierte an der medizinischen Fakultät der Pariser Universität und praktizierte dort viele Jahre lang. Er erforschte die Zusammenhänge zwischen Hören und Sprechen sowie den wechselseitigen Einfluss von Gehör und psychischem Befinden.

Tomatis gilt als Wegbereiter der Musik- und Klang-Therapie, moderner Sprech- und Gesangspädagogik und als Erforscher pränataler Klangerfahrungen. Er entwickelte darüber hinaus eine Methode, mit der man alle Grundfunktionen optimieren und sogar etwaigen Fehlleistungen abhelfen kann.

Sehr verknappt ausgedrückt: Zwei kleine Muskeln im Ohr tragen wesentlich dazu bei, dass der Regelkreis von „eindringenden Schallwellen – Leitung zum Gehirn – emotionaler Abgleich dort – Rückmeldung ans Ohr“ gut funktioniert. Und diese Muskeln können trainiert werden, wie jeder andere Muskel im Ohr auch. Also ist das von Prof. Tomatis erarbeitete Training in erster Linie ein Muskeltraining. Mit Hilfe eines speziellen Gerätes (dem Elektronischen Ohr“) wird speziell aufbereitete Musik dem Ohr so dargeboten, dass die Muskeln optimal gereizt und damit trainiert werden.

Wie läuft das Hörtraining ab?

Nach einem ausführlichen Vorgespräch und dem TOMATIS®-Hörwahrnehmungstest (1-1,5h) wird ein individuelles Programm erstellt. Bei Kindern ist jeweils ein Elternteil obligatorisch (!) mit in das Hörtraining eingebunden, um so der häufig angespannten Situation in der ganzen Familie beizukommen.

Man kommt dann über einen bestimmten Zeitraum jeweils für zwei Stunden ins TOMATIS®-Institut, um aufbereitete d.h. immer wieder neu gefilterte Musik, meist von Mozart oder Gregorianische Gesänge, über spezielle Kopfhörer zu hören. Inzwischen gibt es auch mobile Geräte, die das Training gegebenenfalls zu Hause ermöglichen. Dabei können Erwachsene und Kinder gleichermaßen einfach ausruhen, schlafen, malen oder puzzeln…

Später beziehen wir auch die Stimme mit in das Training ein – Kinder lesen z.B. laut, sprechen dabei in ein Mikrofon und hören ihre eigene Stimme dabei über die Kopfhörer. Und bei vielen entsteht bereits nach 15 Minuten die Verknüpfung von Sehen-Sprechen-Hören, die sie so lang nicht hatten.

Mit einem Tomatis®-Hörtraining kann die Wahrnehmungsleistung des Ohres entscheidend verbessert werden. Wird im Laufe des Hörtrainings das Gefühl für das Gleichgewicht sicherer sowie das Hören differenzierter und präziser, stellt sich auch ein stabileres Selbstbewusstsein ein – also verbessert sich die Wahrnehmung insgesamt. Das spiegelt sich u.a. in einer besseren Konzentrations- und Lernfähigkeit wider. Bewegungsabläufe werden harmonischer, die Haltung sicherer. Stress wird abgebaut. Kommunikationsfähigkeit und kreatives Potential können sich endlich voll entfalten.

Typische Anwendungsgebiete

· Auditive Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen (z.B. zentraler Fehlhörigkeit)
· Motorische Probleme (Grob- und Feinmotorik, Haltungsfehler, Tonusregulationsstörungen und zentrale Gleichgewichtsstörungen),
· Konzentrationsschwierigkeiten (Ablenkbarkeit, herabgesetzte Lern- und Merkfähigkeit),
· Teilleistungsstörungen (z. B. Legasthenie, Lese-Rechtschreibschwäche, Dyskalkulie verursacht durch zentrale Hör- oder Gleichgewichtsstörungen),
· Kommunikations- und Verhaltensprobleme,
· Sprachprobleme,
· Stimmprobleme,
· allgemeine Erschöpfungszustände (veget. Dysbalancen, Schlafstörungen, Nervosität, Burnout),
· Tinnitus (Ohrensausen, Ohrgeräusche),
· gewissen Formen der Schwerhörigkeit,
· der Unterstützung einer Rehabilitation, z.B. nach einem Schlaganfall.

Gastartikel von Claudia Krüger,
Leiterin des Tomatis Instituts Köln, http://www.koeln-tomatis.de

Über Gast

Gastartikel über Lernprobleme: Birgit Sommer schreibt einfache Geschichten für Leseanfänger. Da nicht nur Legastheniker davon profitieren, werden hier auch Gastartikel über Lernprobleme und lesen lernen bei Lernproblemen veröffentlicht. Fachartikel sowie Erfahrungsberichte über AD(H)S, Autismus, DAF, DAZ, DS, LRS, ... sind herzlich willkommen.
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